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Verbund verpasst Drau-Kraftwerken elektrotechnische Frischzellenkur7 min read

26. Oktober 2020, Lesedauer: 5 min

Verbund verpasst Drau-Kraftwerken elektrotechnische Frischzellenkur7 min read

Lesedauer: 5 Minuten

Seit Sommer 2018 herrscht rege Betriebsamkeit in den beiden Drau-Kraftwerken Annabrücke und Edling, die von VERBUND betrieben werden.

Neben kleineren Revisionsarbeiten an den bestehenden Maschinensätzen steht vor allen Dingen der Austausch der gesamten Leit- und Elektrotechnik auf dem Programm. Von der Maschinenautomatik bis zur Wasserhaushaltsregelung werden aktuell sämtliche elektrotechnischen Komponenten erneuert. Hauptverantwortlich dafür zeichnet die Rittmeyer GmbH von der Niederlassung Wien, die sich der Herausforderung stellte, die Umbauarbeiten im laufenden Kraftwerksbetrieb umzusetzen. Aktuell ist circa ein Drittel der Arbeiten abgeschlossen, beide Traditionskraftwerke werden voraussichtlich im Herbst dieses Jahres wieder den Vollbetrieb aufnehmen.

Von Paternion bis hinunter ins kroatische Donja Dubrava ist die Drau fast durchgehend hydroelektrisch genutzt. Beginnend in den Jahren 1939 bis zum Ende der 1980er Jahre wurden die zehn Drau-Kraftwerke in Kärnten errichtet, die heute allesamt von der VERBUND Hydro Power AG betrieben werden. Durch den Ausbau der Wasserkraft wurde nicht nur das Temperament eines einst sehr wilden Fließgewässers gebändigt, sondern auch eine wichtige Grundlage für die Versorgung Kärntens mit sauberem Strom geschaffen. Heute erzeugen die zehn Laufkraftwerke mit ihrer gesamt installierten Leistung von rund 600 MW im Regeljahr etwa 2.600 GWh. Das entspricht in etwa zwei Drittel des Kärntner Stromverbrauchs. Das leistungsstärkste dieser Kärntner Drau-­Kraftwerke ist das Kraftwerk Annabrücke, das mit seinen beiden Kaplanturbinen auf eine Maximalleistung von 90 MW kommt. Das Laufkraftwerk, das im Jahr durchschnittlich etwa 390 GWh ans Netz liefert, liegt in der kleinen Gemeinde Gallizien. Es wurde im Zeitraum 1976 bis 1981 mit finanzieller Beteiligung der Kelag errichtet. Die Anlage wurde erst unlängst einer breiteren Öffentlichkeit bekannt, als in einigen Medien über Europas höchste Fischwanderhilfe mit einer Höhe von 26 m berichtet wurde, die hier realisiert wurde. Um das Kraftwerk technisch fit für die nächsten Jahrzehnte zu machen, wurde unlängst ein umfassendes Retrofitprogramm für die Leit- und Automatisierungstechnik auf Schiene gebracht. Seit Sommer 2018 wird eifrig an der technischen Umsetzung in den Kraftwerken Annabrücke, sowie dem Kraftwerk Edling (Baujahr 1962) gearbeitet.

ALTES SYSTEM NICHT MEHR STAND DER TECHNIK
„Im Mai 2018 bekamen wir von VERBUND den Auftrag, die Erneuerung der Automatisierungs- und Leittechnik der beiden Drau-Kraftwerke umzusetzen. Abgesehen von Turbinenregler, elektrischer Schutz und der Erregung umfasste unser Auftrag das komplette Paket – angefangen von der Maschinenautomatik, der Steuerkopf-Verteilung, über die MCC-Anlagen bis hin zur Wehranlage, der Wasserhaushaltsregelung, der Schaltanlage sowie dem allgemeinen Teil“, umreißt Rittmeyer-Österreich Geschäftsführer Wolfgang Kaiblinger den Auftrag. Dass die bestehende Technik in den beiden Kraftwerksanlagen nicht mehr Stand der Technik war, erläutert Wolfgang Kaiblinger im Detail: „Die alten Steuerungen entsprachen nicht mehr den Anforderungen eines modernen Kraftwerksbetriebs. Die Bedienung erfolgte teilweise noch über ein Blindschaltbild. Die Sicherheitskette zum Schutz der Maschine war nicht mehr zeitgemäß, und IT-Security war überhaupt noch nicht implementiert.“ Viel Arbeit, die auf das Team Rittmeyer zukommen sollte.

BAHNSTROMMASCHINE IM KW ANNABRÜCKE
Grundsätzlich unterscheiden sich die Retrofitprogramme, die an den beiden Anlagen durchgeführt werden, nicht allzu stark. Ein wesentlicher Punkt betrifft allerdings Maschi- ne 1 im Kraftwerk Annabrücke: Dabei handelt es sich um eine Bahnstrommaschine mit Hilfsgenerator, also eine Maschine, die mit einer Frequenz von 16 2/3 Hertz Spannung erzeugt. Alle anderen Maschinen sind in 50 Hertz-Ausführung. Die Herausforderung für die Techniker der Firma Rittmeyer lag dabei vor allem darin, dass einige dafür erforderlichen Komponenten speziell für diese Frequenz parametriert werden mussten. „Darüber hinaus unterscheidet sich der Auftrag auch dahingehend, dass wir beim Kraftwerk Annabrücke die gesamte 400 V AC-Schaltanlage erneuerten, beim Kraftwerk Edling blieb die bestehende Schaltanlage erhalten. Außerdem liegt noch ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Kraftwerken in der Zahl der Signalgeber im Maschinenbereich, die beim KW Annabrücke deutlich höher ist“, konkretisiert Wolfgang Kaiblinger. Sieht man sich den Aufgabenbereich etwas genauer an, lassen sich die gesamten Arbeiten auf fünf große Blöcke aufteilen: den Funktionsbereich Maschinen, die Steuerkopf-Verteilung, den Funktionsbereich Wehr, den Funktionsbereich Kraftwerksregelung und den Bereich Leittechnik allgemein. Letzterer umfasst dabei Arbeiten wie die teilweise Erneuerung der Sickerwasser- und der Saugrohrpumpensteuerung, die Anbindung an die Nebenanlagen, die Erneuerung und Anbindung an die 24/220 V-Schiene und die 230 V AC-Verteilung, um nur ein paar der Aufgaben zu nennen. „Neben den fünf großen Hauptpunkten waren in dem Auftrag noch einige andere Aufgaben inkludiert. Ich denke da etwa an die Erneuerung der Notbedienebene, der der Signalgeber, außerdem die gesamte Verkabelung, auch die Demontagen – und nicht zu vergessen: die Schulung des Betriebspersonals, die Anbindung für die Zentralwarte Feistritz sowie die Dokumentation, in der auch die Korrekturen der Bestandspläne vorgenommen wurden“, fasst Wolfgang Kaiblinger zusammen.

RITOP UND RIFLEX M1 IM EINSATZ
Zentrale Bedeutung in der Erneuerung des gesamten Steuerungs- und Leitsystems kommt natürlich dem eingesetzten Prozessleitsystem zu. Wenig überraschend setzten die Ingenieure von  Rittmeyer dabei auf das vielfach bewährte RITOP. Das im Hause Rittmeyer selbst entwickelte Prozessleitsystem besticht durch seine objektorientierte Prozessführung, seine hohe Flexibilität und die exzellente Skalierbarkeit zur Überwachung und Steuerung der verschiedensten Automatisierungs- und Messsysteme. Dank der sys­temimmanenten modernen Aufzeichnungs- und Auswertungsmöglichkeiten wird RITOP im Kraftwerksbetrieb Optimierungen für den Regelbetrieb möglich machen. Im konkreten Fall wurde es natürlich auch als übergeordnetes Kraftwerksvisualisierungssystem für die Gesamtanlage installiert.
Als Automatisierungseinheit auf Prozessebene kam das ebenfalls bestens bewährte RIFLEX M1 zu Einsatz. Das RIFLEX M1 ist modular aufgebaut und erlaubt somit die perfekte  Skalierung auf jede Anlagengröße. Die durchgehend offene Systemarchitektur ist offen für unterschiedlichste Kommunikationsprotokolle und ermöglicht damit die einfache Integration von diversen Teilsystemen. Das System ist sehr variabel konzipiert und kann auf verschiedene Anforderungen adaptiert werden. Dank der frei kombinierbaren Module lässt es grundsätzlich viel Spielraum für zukünftige Anpassungen und Erweiterungen. „Das neue System, das wir für die Kraftwerke aufgebaut haben, verfügt über ein sehr breites Spektrum vom I/0 Modulen – insgesamt 60 Varianten. Wir wissen, dass es sehr stabil läuft und dank einem Metallgehäuse auch sehr robust ist. Zusätzlich ist die ‚Industrial Security‘ bereits integriert – außerdem alle gängigen industriellen Kommunikationsprotokolle“, so Wolfgang Kaiblinger.

WEBMI AN DEN PANELS
An den Panels für die Vor-Ort-Visualisierungen kamen Webserver vom Typ WebMI zum Einsatz. Diese sind bereits direkt in das RIFLEX M1 integriert und ermöglichen somit den Zugriff auf das System mit jedem browserfähigen Gerät. „Der große Pluspunkt dieser Variante mit dem WebMI besteht darin, dass die jeweiligen Anlagenkomponenten sowohl über das zentrale Leitsystem als auch über die Touchpanels bedienbar sind“, bringt es Wolgang Kaiblinger auf den Punkt. Er verweist in diesem Zusammenhang auch darauf, dass der gesamte Umbau der Leit- und Automatisierungstechnik bereits im Vorfeld gut geplant wurde – eine wesentliche Voraussetzung für eine erfolgreiche Abwicklung.

NEUE ANALYSEMÖGLICHKEITEN VERFÜGBAR
Die neue Technik bringt für die Betreiber eine ganze Reihe von Vorteilen mit sich. Abgesehen von der hohen Verfügbarkeit des neuen Systems sind die Funktionalitäten nach Abschluss des gesamten Retrofitprogramms deutlich erweitert. Wolfgang Kaiblinger: „Sehr interessant ist sicherlich, dass der Betreiber damit nun integrierte Online-Diagnosemodule an der Hand hat. Über das Visualiserungs- und Bedienungssystem RITOP verfügt er nicht zuletzt über sehr schnelle Analysemöglichkeiten, oder über Optionen, Vergleiche zwischen aktuellen und historischen Zuständen zu ziehen, oder etwa die Auswertung von Tendenzen – und das alles nahezu in Echtzeit. Sollte einmal ein echter Störungsfall eintreten, kann die CPU und das Interface ganz unkompliziert ausgetauscht werden. Dazu ist kein Softwaredownload erforderlich. Es genügt im dem Fall, einfach das Speichermedium umzustecken.“

ARBEITEN IM LAUFENDEN BETRIEB
Neben der Einhaltung des Terminplans und der Koordinierung der unterschiedlichen Gewerke lag und liegt die zentrale Herausforderung für das Team von Rittmeyer darin, dass die Arbeiten während des    laufenden Betriebes zu erfolgen haben. Der Umstieg vom alten zum neuen System hat ohne Unterbruch zu erfolgen. Um dies zu gewährleisten, werden das alte und das neue System über einen Protokollkonverter miteinander verbunden. Das ermöglicht einen Datenaustausch und einen Parallelbetrieb der Systeme bis zur kompletten Ablösung durch die neue Rittmeyer-Technik. „Auch die Trennung der Bestandsverkabelung ohne Beeinträchtigung der Kraftwerksfunktionen ist durchaus anspruchsvoll. Aber wir bringen dabei einiges an Know-how und Erfahrung mit“, so der Geschäftsführer von Rittmeyer Österreich.

Im Oktober sollen das Kraftwerk Annabrücke und einen Monat später das Kraftwerk Edling abgeschlossen sein. Mit der neuen Leit- und Automasierungstechnik sind die Kraftwerke für alle Anforderungen, die die moderne Wasserkraft heute und in den nächsten Jahren mit sich bringt, bereit.

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