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Ungarns Kraftwerks-Legende Gibárt schreibt neues Kapitel5 min read

9. Mai 2022, Lesedauer: 4 min

Ungarns Kraftwerks-Legende Gibárt schreibt neues Kapitel5 min read

Lesedauer: 4 Minuten

Rund 50 Jahre lang hatte man das Kraftwerk Gibárt im Norden Ungarns keiner Sanierung mehr unterzogen. Es wurde Zeit, das alte Traditionskraftwerk – immerhin das erste Kraftwerk Ungarns, das Wechselstrom erzeugte – an moderne technische Wasserkraftstandards anzupassen. Vor allen Dingen die maschinentechnische Ausrüstung der Anlage am Fluss Hernád wurde komplett erneuert. Dazu ersetzten die Profis der österreichischen Small Hydro Division von Voith Hydro die zwei bestehenden Maschinensätze durch zwei moderne Kaplan-Rohrturbinen. Der Erfolg zeigte sich nach deren Inbetriebnahme: Die Erzeugungskapazitäten des renovierten Kraftwerks Gibárt wurden um rund 70 Prozent hinaufgeschraubt. Der Kraftwerks-Methusalem kann damit seiner langen Geschichte ein weiteres Kapitel hinzufügen.

 

Exakt 120 Jahre ist es her, dass Graf János Báró Harkányi an den Entwürfen und Plänen für ein Wasserkraftwerk am Fluss Hernád arbeitete. Der technisch interessierte Gutsbesitzer wählte dafür einen alten Müh­­lenstandort im heutigen Bezirk Borsod-­Abaúj-Zemplén. Damit ersparte er sich die Errichtung eines eigenen Ausleitungskanals, den alten Mühlkanal gab es bereits. Von 1902 bis 1903 wurden die Pläne schließlich in die Tat umgesetzt. Das erste Wasserkraftwerk Ungarns, das Wechselstrom erzeugte, nahm 1903 seinen Betrieb auf.  Es versorgte vorrangig die Gewerke des Gutshofs Harkányi, die Dresch­werkzeuge, den Häcklser, kleinere Mühlen, Sägen und Pumpen, aber auch die etwas abseits gelegene Zuckerfabrik Szerencs, eine Brennerei und natürlich auch das angrenzende Dorf Gibárt, dem das Kraftwerk bis heute seinen Namen verdankt. Zur erweiterten Kraftwerksinfrastruktur gehört auch ein zweigeteiltes Wehrbauwerk, das den Zufluss in den Ausleitungskanal reguliert. Die Wehrfelder weisen eine Breite von jeweils 13,5 m auf. Die stählernen Schleusentafeln stammen aus dem Jahr 1982. Heute sind sie automatisiert und lassen sich auch aus der Ferne steuern.

Anlage steht unter Denkmalschutz
Das alte Kraftwerk wurde ursprünglich mit zwei Francis-Turbinen mit horizontaler Achse ausgerüstet. Aus alten Aufzeichnungen geht hervor, dass die wassergeschmierten Lager aus einem sehr harten und schweren Holz bestanden, das dafür speziell aus Südamerika herangeschafft wurde. Diese Lager wurden später durch Bakelit-Bauteile ersetzt. Rund 320 kW lieferten die Maschinen, die ohne größere Umbauten und Reparaturen bis zum Jahr 1947 durchliefen. Danach wurden die Maschinen generalüberholt, 20 Jahre später wiederholten die Betreiber diese Maßnahme. Heute zählt die Anlage zum Kraftwerksportfolio der ungarischen ALTEO Gruppe, die sich auf Investitionen und Projektentwicklungen im Bereich der erneuerbaren Energien spezialisiert hat. Um das Kraftwerk langfristig weiterhin zuverlässig weiterbetreiben zu können, entschloss sich das Unternehmen vor rund fünf Jahren zu einer umfassenden Revitalisierung. Dabei stand allerdings neben dem technischen Refurbishment vor allem die Bewahrung des Erscheinungsbildes des Kraftwerks im Vordergrund. Schließlich gilt das Kraftwerk Gibárt als Industriedenkmal nationaler Ordnung und genießt entsprechenden Schutzstatus.

Von „Francis“ zu „Kaplan“
Zwischen 2017 und 2018 haben die Planung und die Genehmigung rund ein Jahr in Anspruch genommen, heißt es von Seiten des Betreibers. Nachdem ein etwa halbjähriges Verfahren zur Finanzierung erfolgreich durchlaufen wurde, konnte 2019 mit dem Umbau begonnen werden. Gerade im Hinblick auf den Schutz des historisch bedeutenden Bauwerks war es geboten, den Bauaufwand für etwaige Betonarbeiten möglichst gering zu halten. Für die erfahrenen Turbinenkonstrukteure von Voith Hydro bedeutete dies, die Maschinen kompakt zu halten und dennoch ein Höchstmaß an Effizienz sicherzustellen. Dass man von Francis- auf doppelt-regulierte Kaplan-Rohrturbinen wechselte, war naheliegend: Schließlich weist der Fluss Hernàd durchaus schwankende Pegel im Jahresverlauf auf. Vor allem im Frühling kann er sehr viel Wasser bringen. Diesem Umstand trug man auch insofern Rechnung, als die nutzbare Wassermenge erhöht werden konnte. Waren die alten Francis-Turbinen noch auf je 9 m3/s ausgelegt, so liegt der Nenndurchfluss der neuen Voith-Kaplan-Rohrturbinen bei jeweils 11,62 m3/s. Die vertikalachsigen Maschinen wurden optimal auf das Wasserdargebot und eine Netto-Fallhöhe von 3,75 m ausgelegt, durch ihre doppelte Regulierbarkeit kann über die gesamte Breite des Wasserdargebots ein exzellenter Wirkungsgrad gewährleistet werden. Bei den Maschinen handelt es sich um Langsamläufer, die mit 200 Upm ihre Energie jeweils über einen Riemenantrieb auf den Rotor des Generators übertragen.

Knackpunkt Corona-Management
Ab Herbst 2019 wurde der Zuleitungskanal entwässert, damit die folgenden Montagearbeiten im Trockenen durchgeführt werden konnten. Im Januar letzten Jahres war es schließlich soweit: Die Rohrturbinen wurden vom Fertigungsstandort St. Georgen zum Kraftwerk in den nördlichsten Bezirk Ungarns transportiert. Es folgte eine aufwändige Montagephase, bei der die Herausforderungen vor allem in einem sicheren Corona-Management lagen. Es sei – so die Projektverantwortlichen – die größte Herausforderung des Projekts gewesen. Immer wieder hätte sich der eine oder andere Termin aufgrund der Pandemie-bedingten Restriktionen verschoben. Doch letztlich gelang es dank der kooperativen und lösungsorientierten Vorgangsweise des beauftragten Montage- und IBS-Teams sämtliche Hürden zu meistern. Anfang Oktober letzten Jahres nahm das Traditionskraftwerk wieder seinen Betrieb auf.

Steigerung um 70 Prozent
Rund 3,5 Millionen Euro hatten die Betreiber von ALTEO in das Renovierungsprojekt in­vestiert. Das sollte sich auszahlen: Schließlich gelang nach Auskunft der Betreiber eine bemerkenswerte Steigerung in Sachen Produktionskapazität um ungefähr 70 Prozent. Die wesentlichen Faktoren dafür waren zum einen die moderate Erhöhung der Ausbauwassermenge, zum anderen aber auch die höhere Effektivität der beiden neuen Kaplan-Rohrturbinen, außerdem noch eine neue, moderne Steuerungstechnik, die im Zuge der Renovierung ebenfalls implementiert wurde. Kam das alte Kraftwerk Gibárt noch auf rund 3,4 GWh im Jahr, liegt das Regelarbeitsvermögen heute bei circa 5,75 GWh. Der erzeugte Strom wird direkt ins öffentliche Stromnetz eingespeist und in Form der „Green Premium“ Vergütung, dem ungarischen Ökostromförderungs-Regime, abgerechnet. Die Betreiber gehen davon aus, dass die Lebensdauer der historischen Anlage mit der abgeschlossenen Renovierung um mindestens 35 Jahre prolongiert wird.

Folgeauftrag als Vertrauensbeweis
Für die ALTEO Gruppe, die sich als verlässlicher Energieversorger mit ökologischer Relevanz einen Namen gemacht hat, war es auch wichtig, den historischen Charakter des Kraftwerksgebäudes zu erhalten. Dementsprechend sensibel wurde die Gebäudehülle saniert. Sie dient in Zukunft auch musealen Zwecken, die alten Maschinensätze sollen öffentlich zugänglich bleiben. Wenn es die Corona-Situation zulässt, ist man bestrebt, noch in diesem Jahr einen Tag der offenen Tür für die Bevölkerung zu veranstalten.
Für die österreichische Small Hydro Division von Voith Hydro, die bei diesem Projekt einmal mehr ihre Kompetenz unter Beweis stellen konnte, war es nicht das erste Projekt, das man im Auftrag der ALTEO Gruppe abwickelte. Vor einigen Jahren wurde bereits das Kraftwerk Felsödobszai in ähnlicher Manier revitalisiert. Dass man die Renovierung des ältesten ungarischen Wasserkraftwerks nun wieder in ihre Hände legte, kann als echter Vertrauensbeweis gewertet werden. Ungarn wird für Voith Hydro auch in Zukunft ein kleiner, aber interessanter Markt bleiben.

 

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