Kleinwasserkraftwerk Arvigo im Graubündner Calancatal erzeugt unter Hochdruck Strom8 min read
Lesedauer: 6 MinutenIm Süden des Kantons Graubünden hat der Schweizer Energieversorger BKW Energie AG in Kooperation mit der Gemeinde Calanca ein neues Kleinwasserkraftwerk errichtet. Die Anlage mit ca. 5 GWh Regelarbeitsvermögen nutzt das bislang ungenutzte hydroenergetische Potenzial des namensgebenden Gebirgsbachs Rià di Arvigo und eine Fallhöhe von mehr als 700 m. Für die Ausleitung des Gewässers sorgt das patentierte Coanda-System „Grizzly Power Protec“ mit Selbstreinigungsfunktion vom Südtiroler Branchenexperten Wild Metal GmbH. Ins Maschinengebäude gelangt das Triebwasser über einen ca. 2,2 km langen Kraftabstieg, der durch äußerst steiles Gelände verläuft. Im Maschinengebäude der Hochdruckanlage, dessen komplette elektromechanische und regelungstechnische Ausstattung vom Small Hydro-Weltmarktführer ANDRITZ Hydro stammt, sorgt eine 2-düsige Pelton-Turbine mit 1,7 MW Engpassleistung für ein Höchstmaß an Effektivität.
Das weit im Süden von Graubünden gelegene Calancatal umfasst insgesamt fünf Gemeinden und zählt zum italienischsprachigen Teil des Kantons. Geografisch betrachtet erstreckt sich das rund 27 km lange Tal zwischen dem tiefsten Punkt in Grono (332 m ü. M.) und der höchsten Erhebung Puntone di Fracion (3.202 m ü. M.) über 2.870 Höhenmeter. Mit ihren zahlreichen Wanderwegen hat die wildromantische Region ein umfangreiches Angebot für Sportbegeisterte und Bergfreunde parat. Darüber hinaus bietet die Topographie ideale Voraussetzungen für die Stromproduktion aus der natürlichen Kraft des Wassers. Diese Möglichkeit erkannte die BKW Energie AG im Rahmen einer bereits 2010 angestellten Studie, die sich mit ungenutztem Wasserkraftpotenzial in der Schweiz befasste.
Gemeinschaftliches Ökostromprojekt
„Dabei wurde unter anderem das Gewässer Rià di Arvigo im Calancatal für den Bau eines neuen Kleinwasserkraftwerks ins Auge gefasst“, erklärt der BKW-Projektleiter Patrik Eichenberger: „Wie in der Schweiz üblich, dauerte das Bewilligungsverfahren mehrere Jahre. Von der Gemeinde Calanca – im Kanton Graubünden liegt die Konzessionshoheit bei den Gemeinden – wurde die benötigte Bewilligung für die Anlage problemlos ausgestellt. Auch die Auflagen der kantonalen Fachstellen konnten ohne größere Schwierigkeiten erfüllt werden. Allerdings gab es Einsprachen von zwei Umweltschutzorganisationen, die das Verfahren stark in die Länge zogen.“ Einig werden konnten sich die Konzessionswerber mit den Umweltschützern durch verschiedene ökologische Ausgleichsmaßnahmen und den Verzicht auf andere damals geplante Projekte. Für die Planung, die Bauausführung und den Betrieb der Anlage wurde die Kraftwerksgesellschaft Idro Arvigo SA gegründet. Daran hält die BKW mit 95,16 Prozent die Mehrheitsanteile, die Gemeinde Calanca ist mit 4,84 Prozent beteiligt. Die Generalplanung des Projekts wurde von der Engineering-Abteilung der BKW in Eigenregie durchgeführt, für die Planungen der Wasserfassung und der Druckrohrleitung sorgte das Ingenieurbüro IM Maggia Engineering SA. Die gesamten Hoch- und Tiefbauarbeiten wurden von einem aus vier lokalen Unternehmen bestehenden Konsortium durchgeführt.
Coanda-System ersetzt Entsander
Nach dem Erhalt der finalen Bewilligung ging das Projekt im Mai 2021 mit dem Aushub der Baugrube in die Umsetzungsphase über. Etwa zwei Monate später wurde mit der Errichtung der Wasserfassung am Zusammenfluss der Gewässer Rià della Pianca und des Rià d’Auriglia begonnen. Patrik Eichenberger weist darauf hin, dass der abgelegene Standort der Wasserfassung und der Trassenverlauf der Druckrohrleitung den Einsatz von Hubschrauberunterstützung erforderlich machte: „Die Wasserfassung befindet sich an einem für Kraftfahrzeuge unzugänglichen Ort, der nur durch einen Wanderweg erschlossen ist. Somit mussten die Baumaterialien und die Druckrohre auf dem Luftweg zugestellt werden.“ Der Projektleiter fährt fort, dass schon in der Frühphase der Projektierung entschieden wurde, die Wasserfassung mit einem Coanda-System auszustatten: „Um einen signifikanten Abscheidegrad der Sedimente zu erreichen, wäre ein großzügiges Entsanderbecken notwendig gewesen. Diese Variante wäre aber zu teuer gekommen. Stattdessen kommt ein kostengünstigeres Coanda-System zum Einsatz, außerdem werden die Turbinen-Düsen mit einer zusätzlichen Beschichtung gegen Abrasion geschützt.“ Grundsätzlich besteht die Wasserfassung aus einer Wehrmauer mit Überfallkante und dem daneben angeordneten Coanda. Das ausgeleitete Triebwasser strömt in ein Vorbecken, in dem sich die Sonde der pegelgeregelten Turbine befindet, und gelangt im Anschluss durch die Apparatekammer mit der Sicherheitsdrosselklappe zum Übergang auf die Druckrohrleitung.
Bewährter Stahlwasserbau aus Südtirol
Die komplette Stahlwasserbauausrüstung an der Wasserfassung, deren Kern das patentierte Coanda-System „Grizzly Power Protec“ bildet, stammt vom Südtiroler Branchenexperten Wild Metal GmbH. Der im gesamten Alpenraum mittlerweile mehr als 500-mal eingesetzte „Grizzly“ besteht im Wesentlichen aus einem robusten, feuerverzinktem Stahlgitter zum Schutz vor grobem Schwemmgut wie Steinen oder Ästen und einem darunter liegenden Feinsieb. Durch den namensgebenden Coanda-Effekt des aus speziellem Edelstahl gefertigten Feinsiebs werden unerwünschte Partikel und Geschwemmsel automatisch durch den Wasserstrom von der Rechenfläche gespült. Beim Projekt Arvigo kommt ein Wasserkraft-„Grizzly“ mit 0,4 mm Feinrechen-Stabweite zum Einsatz. Neben dem Coanda-System lieferten die Südtiroler noch den Grundablasschütz, den Rohrabgangskonus, die Entleerungsleitung sowie das Hydraulikaggregat zum Antrieb der Absperr- und Regulierorgane.
Druckrohrleitung im Steilgelände
Die größten Herausforderungen bei der Projektumsetzung bildeten laut Patrik Eichenberger mehrere äußerst steile Geländeabschnitte entlang der Druckrohrleitungstrasse: „Die Druckrohrleitung verläuft zum Teil über Terrain mit bis zu 40 Grad Steigung. Diese Verhältnisse stellten bei der im Steilgelände mit einem Schreitbagger durchgeführten Rohrverlegung alles andere als leichte Bedingungen dar.“ Der insgesamt ca. 2,2 km lange Kraftabstieg, der einen bemerkenswerten Höhenunterschied von rund 700 m überwindet, besteht aus zwei verschiedenen Rohrmaterialien. Im oberen Abschnitt wurde die Leitung mit duktilen Gussrohren DN400 ausgeführt. Ungefähr auf halber Fallhöhe erfolgt wegen der hohen Druckstufe, für welche die Gussrohre nicht zugelassen sind, der Übergang auf geschweißte Stahlrohre. Weiter unten verringert sich der Durchmesser der Stahlrohre auf DN300. „Aufgrund von instabilen geo-logischen Bedingungen wurden an zwei Positionen der Leitungsführung spezielle Expansionselemente eingebaut. Damit ist sichergestellt, dass die Druckrohrleitung bei möglichen Rutschbewegungen die entstehenden Kräfte unbeschadet aufnehmen kann“, so der Projektleiter.
Komplettpaket von ANDRITZ Hydro
Das Maschinengebäude im Ortsteil Arvigo wurde vom Small Hydro-Weltmarktführer ANDRITZ Hydro mit einem elektromechanischen und regelungstechnischen Komplettpaket ausgestattet. Als Herzstück des Hochdruckkraftwerks dient eine 2-düsige Pelton-Turbine in horizontalachsiger Bauform. Bei vollem Wasserdargebot schafft die auf 310 l/s Ausbauwassermenge und 634 m Nettofallhöhe ausgelegte Maschine 1,7 MW Engpassleistung. Dank der Ausführung mit zwei Düsen kann die Turbine auch bei verringerten Zuflüssen ein breites Betriebsband abdecken. Die exakte Regelung der beiden Turbinendüsen erfolgt durch ein Hydraulikaggregat. Das aus einem Edelstahl-Monoblock gefräste Laufrad, das vom Triebwasser mit über 70 bar Druck angetrieben wird, dreht mit 1.500 U/min. Vervollständigt wird der Maschinensatz durch einen direkt mit dem Laufrad verbundenen Synchron-Generator vom tschechischen Traditionshersteller TES Vsetín mit 2.289 kVA Nennscheinleistung. Zur Kühlung des mit Gleitlagern bestückten Generators wurde im Unterwasserbereich der Turbine ein Wärmetauscher platziert, der vom abgearbeiteten Triebwasser gekühlt wird. Das gesamte elektro- und leittechnische Equipment wurde ebenfalls von ANDRITZ Hydro geliefert. Dazu zählten unter anderem die Leittechnikschränke, die Mittelspannungsschaltanlage und der Transformator zur Umwandlung des erzeugten Stroms auf die 16 kV-Spannung vom regionalen Netz sowie die Programmierung der Anlagen-Leittechnik.
Sauberer Strom für 1.100 Haushalte
Nach der rund zwei Jahre dauernden Umsetzungsphase – inklusive witterungsbedingter Winterpausen – startete im Mai 2023 der 30-tägige Probetrieb. Im Anschluss an den erfolgreich verlaufenen Testlauf ging die Anlage etwa einen Monat darauf in den Regelbetrieb über. Offiziell in Betrieb genommen wurde das neue Kleinwasserkraftwerk am 9. und 10. Juni im Rahmen einer feierlichen Eröffnung und einem Tag der offenen Tür, bei dem sich interessierte Bürgerinnen und Bürger einen Eindruck von der vorbildlich realisierten Ökostromanlage verschaffen konnten. „Während der Projektierungsphase waren ich und andere BKW-Vertreter einige Male zur Geländebegutachtung in Calanca. Damals gab es durchaus Zweifel, ob das Projekt angesichts des steilen Geländes überhaupt realisiert werden kann. Wie man sieht, hat es dank des Einsatzes der Baufirmen dennoch geklappt. Großer Dank gebührt auch der Gemeinde Calanca für die Erteilung der wasserrechtlichen Konzession und ihre Unterstützung bei der Projektrealisierung. Sehr wichtig ist auch, dass während der Projektumsetzung keine Unfälle passiert sind. Und nicht zuletzt: Die ersten Betriebserfahrungen der Anlage sind sehr positiv verlaufen“, resümiert Patrik Eichenberger. Im Regeljahr wird das neue Kleinwasserkraftwerk im Calancatal rund 5 GWh sauberen Strom erzeugen, dies entspricht umgerechnet dem jährlichen Strombedarf von ca. 1.100 durchschnittlichen 4-Personen-Haushalten.
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