Kleinwasserkraftwerk Rasoira macht Ökostrompotenzial in 60 Jahre altem Stollen nutzbar7 min read
Lesedauer: 6 MinutenIm Tessiner Malvagliatal in der Südschweiz erzeugt seit dem Frühjahr 2023 das neue Kleinwasserkraftwerk Rasoira sauberen Strom. Realisiert wurde die Anlage von der Blenio Kraftwerke AG, die mit ihren Großkraftwerken im Regeljahr über 900 GWh Ökoenergie produziert. Obwohl das neue Kleinwasserkraftwerk bei weitem nicht in diese Kategorie gehört, ist die Anlage dennoch ein anschauliches Beispiel für die vorbildliche Einbindung von brachliegendem Wasserkraftpotenzial in ein bestehendes System. So wird mit dem in einer Kaverne errichteten Neubau ein Restgefälle im Verbindungsstollen zwischen dem Großkraftwerk Olivone und dem Stausee Malvaglia zur Stromerzeugung nutzbar – und das ohne zusätzliche ökologische Eingriffe. Als ideale Maschinenlösung entschieden sich die Betreiber für eine doppeltregulierte Kaplan-Turbine, die unter Volllast rund 4,45 MW Engpassleistung erzielt. Das Regelarbeitsvermögen des neuen Blenio-Kraftwerks beträgt ca. 9 GWh, womit umgerechnet der Jahresverbrauch von rund 2.300 durchschnittlichen Haushalten auf maximal umweltfreundliche Art abgedeckt wird.
Die 1956 gegründete Blenio Kraftwerke AG (italienisch: Officine idroelettriche di Blenio, kurz Ofible) ist mit einer durchschnittlichen Jahreserzeugung von über 900 GWh der zweitgrößte Energieversorger im Tessin. Der Grundstein für diese beträchtliche Erzeugungskapazität wurde bereits Ende der 1950er- bzw. Anfang der 1960er-Jahre gelegt. In diesem Zeitraum errichtete Blenio die Speicherkraftwerke Olivone (110 MW Engpassleistung, 220 GWh Regelarbeitsvermögen) und Biasca (306 MW Engpassleistung, 670 GWh Regelarbeitsvermögen) sowie das Laufwasserkraftwerk Luzzone (15 MW Engpassleistung, 30 GWh Regelarbeitsvermögen).
Potenzial nutzbar machen
Im Jahr 2012 wurden die ersten Konzepte für die jüngste Anlage der Blenio erstellt, erklärt Vizedirektor Samuele Szpiro: „Vom Auslauf des Kraftwerks Olivone führt ein rund 15 Kilometer langer Stollen zum Ausgleichsbecken Malvaglia, der wiederum das Reservoir für das Kraftwerk Biasca bildet. Die Planungen sahen vor, das Restgefälle am Ende des Stollens durch den Bau eines neuen Kleinwasserkraftwerks für die Stromerzeugung nutzbar zu machen.“ Bis das Projekt umgesetzt werden konnte sollten allerdings einige Jahre vergehen, was Samuele Szpiro zufolge in erster Linie mit wirtschaftlichen Gründen zusammenhing. Einerseits war die Wirtschaftlichkeit des Projekts an die Gewährleistung der Schweizer Ökostromförderung gekoppelt, welche den Betreibern aufgrund der langen Warteliste erst im Jahr 2019 erteilt wurde. Andererseits mussten auch alle Aktionäre, die an der Blenio beteiligt sind (Kanton Tessin; Axpo Power AG, Baden; Stadt Zürich; Alpiq Suisse SA, Lausanne; IWB Basel; BKW Energie AG, Bern; Energie Wasser Bern), ihre Zustimmung für die Projektumsetzung geben. „Der Kanton Tessin, der 20 Prozent der Gesellschaftsanteile hält, ist nach dem Ablauf der Wasserrechtskonzession bestrebt, die Kraftwerksanlagen zu übernehmen. Deswegen initiierte der Kanton eine verlängerte Abschreibungsdauer, was in weiterer Folge den anderen Aktionären mehrere Millionen ersparte und schließlich dazu führte, dass der Blenio-Verwaltungsrat seine Zusage für die Projektrealisierung erteilte“, so Samuele Szpiro.
Zeit ist Geld
Im Gespräch mit zek HYDRO merkt der Vizedirektor an, dass bei der Projektierung zwei grundsätzlich verschiedene Bauvarianten zur Debatte standen. Dabei ging es um die Frage, ob die Anlagenzentrale ober- oder unterirdisch angelegt werden sollte. „Schlussendlich fiel die Entscheidung zugunsten der unterirdischen Variante, da es sich als zielführender darstellte, die Zentrale möglichst nah am Hauptstollen zu errichten. Bei einem oberirdischen Maschinengebäude hätte man sowohl im Ober- als auch im Unterwasserbereich viel längere Zu- und Ableitungen benötigt. Mit der unterirdischen Lösung sind die neuen Ober- und Unterwasserstollen relativ kurz ausgefallen, wodurch sich auch die hydraulischen Verluste in Grenzen halten.“ Die Anbindung der neuen Stollen stellte im Hinblick auf den Faktor Zeit gleichzeitig eine große Herausforderung dar. Um die Anschlüsse zum Hauptstollen herstellen zu können, mussten die Speicherkraftwerke Olivone und Biasca außer Betrieb genommen und der Hauptstollen entleert werden. Damit sich die mit der Anlagenstilllegung einhergehenden Erzeugungsverluste auf ein Minimum beschränken, mussten die Bauarbeiten möglichst schnell erfolgen. „Bei den ersten Projektierungen wurden für diese Arbeiten drei Monate Zeitaufwand prognostiziert. Schlussendlich konnten die Arbeiten, die auch einige Komplikationen mit sich brachten, in sieben Wochen umgesetzt werden, was man guten Gewissens als sehr gute Leistung bezeichnen darf“, bekräftigt Samuele Szpiro.
Heikle Sprengarbeiten
Die Umsetzungsphase des Projekts startete im März 2020 mit der Vergrößerung des bestehenden Zugangsstollen. Dieser war ursprünglich lediglich für Kontroll- und Wartungstätigkeiten am Hauptstollen konzipiert. Damit die Baumaschinen und später das hydroelektrische Equipment eingebracht werden konnten, war eine Vergrößerung des Stollenquerschnitts unabdinglich. Da sich die Staumauer des Malvaglia-Beckens unmittelbar neben dem neuen Kavernenkraftwerk befindet, wurden im Projektgebiet mehrere Seismographen installiert. Vorgeschrieben wurden diese Sicherungsmaßnahmen vom Schweizer Bundesamt für Energie, das eine Überwachung der Erschütterungen, die durch die Felssprengungen verursacht wurden, gefordert hatte. Nachdem noch im Spätsommer 2020 die 22 m lange, 11 m breite und 10 m hohe Kavernenzentrale ausgebrochen wurde erfolgte zwischen Februar und März 2021 die exakt eingetaktete Anbindung der neuen Ober- und Unterwasserstollen. Zwischen April und Juni erfolgte bereits die Montage der ersten Turbinen- bzw. Stahlwasserbaukomponenten. Nachdem noch 2021 der Innenausbau der Kaverne weitgehend abgeschlossen wurde folgte ab dem Januar 2022 die Lieferung und Montage der elektromechanischen Infrastruktur wie Laufrad, Generator und Maschinentransformator.
Durchdachtes System
Eine Besonderheit des neuen Kleinwasserkraftwerks ist der nutzbare Fallhöhenbereich, der zwischen 11 und 26 m schwankt. Begründet sind diese erheblichen Schwankungen mit den wechselhaften Stollenzuflüssen und dem variierenden Wasserstand im Malvaglia-Becken. Bei einer Ausbauwassermenge von 22 m³/s und den gegebenen Fallhöhenverhältnissen lag es auf der Hand, dass die Anlage mit einer Kaplan-Turbine ausgestattet wurde. Durch ihre doppelte Regulierfähigkeit mittels Leitapparat und verstellbarer Laufradflügel gewährleistet die auf 4,45 MW Engpassleistung ausgelegte Maschine sowohl unter Voll- als auch unter Teillast eine effiziente Stromproduktion. Den Zuschlag für die Lieferung der Turbine konnte sich im Zuge der europaweiten Ausschreibung die österreichische Global Hydro Energy GmbH sichern. Komplettiert wird der Maschinensatz durch einen direkt mit dem Laufrad gekoppelten Synchron-Generator vom Hersteller KONČAR. Darüber hinaus waren die international renommierten Wasserkraftspezialisten auch für die Programmierung der Kraftwerkssteuerung zuständig. Zu den weiteren zentralen technischen Bestandteilen der Kraftwerksanlage zählt eine neue Regelklappe, die am Auslauf des Hauptstollens installiert wurde, erklärt Samuele Szpiro: „Der Hauptstollen wurde ursprünglich als Freispiegelsystem konzipiert. Durch den Einbau der Regelklappe kann dieser nun auch als Druckstollen genutzt werden. Das bringt einen entscheidenden Vorteil mit sich: Wenn die Zuflüsse vom Kraftwerk und den Wasserfassungen, die zusätzlich in den Stollen einspeisen, gering sind, kann der Stollen durch das Verschließen der neuen Regelklappe teilgefüllt werden. Bei einer Stollenlänge von ca. 7 km ergibt das eine Wassermenge von ca. 50.000 m³, die vom Kleinwasserkraftwerk sukzessive abgearbeitet werden kann. Wenn der Zufluss versiegt, stellt die Turbine automatisch ab und der Stollen kann wieder von Neuem gefüllt werden. Mit dieser Betriebsweise verlieren wir keinen Tropfen Wasser und können trotzdem effektiv Strom erzeugen.“ Gefertigt und fachgerecht montiert wurde die Regelklappe von der im Kanton Glarus ansässigen Fäh AG. Die Glarner Branchenexperten waren zudem für die Ausführung weiterer Stahlwasserbauteile wie Schutzrechen, Dammbalken, Hydraulikaggregat inklusive Verrohrungen sowie die Lieferung einer Panzertür zuständig.
Erfolgreiches erstes Betriebsjahr
Seinen ersten Probelauf konnte das Kraftwerk Rasoira schließlich im März 2023 absolvieren. Ursprünglich war das erste Andrehen der Turbine bereits im September 2022 geplant, aufgrund der extremen Trockenheit in den Vormonaten musste diese aber um vier Monate verschoben werden. „Die Inbetriebnahme ist dann wunschgemäß verlaufen, in den darauffolgenden Monaten wurden die üblichen Kinderkrankheiten beseitigt. Mittlerweile läuft die Anlage sehr zufriedenstellend. Im ersten Betriebsjahr – das hydraulische Jahr beginnt bei Blenio am 1. Oktober und dauert bis zum 30. September – wurden bereits 10 GWh Strom produziert. Damit liegen wir 1 GWh über der prognostizierten Jahreserzeugung. Alles in allem konnte das in vielerlei Hinsicht anspruchsvolle Projekt zu einem erfolgreichen Abschluss gebracht werden. Zu verdanken ist dies dem tatkräftigen Einsatz der beteiligten Unternehmen und natürlich auch den Kollegen bei der Blenio, die allesamt eine sehr gute Note für ihre Leistungen verdient haben“, bekräftigt Samuele Szpiro, der abschließend darauf hinweist, dass man bei der Blenio auch weiterhin den Ausbau von ungenutztem Wasserkraftpotenzial vorantreiben wird.
Erschienen in zek HYDRO, Ausgabe 5/2024
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