Neues Kleinwasserkraftwerk Wieden im Südtiroler Pfitschtal am Netz10 min read
Lesedauer: 8 MinutenSeit Juli 2024 erzeugt das neue Kleinwasserkraftwerk Wieden im Südtiroler Pfitschtal saubere Energie. Realisiert wurde die Anlage, die sich an einem bislang hydroenergetisch ungenutzten Abschnitt des Pfitscherbachs befindet, von den beiden Pfitschtalern Armin Rainer und seinem Onkel Ernst Rainer. Das innerhalb von ca. 15 Monaten errichtete Ökostromkraftwerk basiert auf dem klassischen Ausleitungsprinzip, wobei maximal 6 m³/s Ausbauwassermenge über eine Strecke von ca. 300 m ins unterirdische Maschinengebäude geleitet werden. An der Wasserfassung kommt zur Stauhaltung ein Schlauchwehr zum Einsatz, das aus Gründen des Hochwasserschutzes vorgeschrieben wurde. Verantwortlich für die Stromerzeugung ist eine doppeltregulierte Kaplan-Turbine, die bei vollem Wasserdargebot 281 kW Engpassleistung erzielt. Die Betreiber freuen sich über ihr mustergültig umgesetztes Ökostromprojekt, das im Regeljahr ca. 1,2 GWh nachhaltig erzeugte Energie liefern kann.
Im Norden von Südtirol zählt das Pfitschtal aufgrund seiner naturbelassenen Landschaft und der malerischen Bergkulisse zu einer beliebten Destination für Touristen und Wanderfreunde. Zudem bietet die Region ideale Bedingungen für die saubere Stromerzeugung aus Wasserkraft. Die leistungsstärkste Anlage in der Talschaft ist das Kraftwerk Wiesen, das sich in der namensgebenden Pfitscher Gemeindefraktion am Talausgang vor dem Sterzinger Becken befindet. Im Regeljahr produziert das 1927 fertiggestellte Kraftwerk, das von einem rund 400.000 m³ fassenden Stausee gespeist wird, rund 81 GWh Strom. Aber auch eine Vielzahl kleiner dimensionierter Anlagen unterschiedlicher Bauart erzeugen im rund 23 Kilometer langen Pfitschtal saubere Energie.
Kraftwerkszuwachs für das Pfitschtal
Zu den jüngsten Kraftwerken in der Region gehört das 2021 fertiggestellte Kleinwasserkraftwerk Aue, welches in der Gemeindefraktion St. Jakob von einer lokalen Agrargemeinschaft errichtet wurde. Über dieses Projekt hat zek HYDRO bereits in der Dezember-Ausgabe 2022 ausführlich berichtet. Nur wenige Kilometer vom Kraftwerk Aue entfernt befindet sich im Ortsteil Fussendraß das Kleinwasserkraftwerk Wieden, das im Juli 2024 erstmals den Betrieb aufgenommen hat. Realisiert wurde das Kraftwerk von den gebürtigen Pfitschtalern Armin Rainer und seinem Onkel Ernst Rainer: „Die starke Wasserkraftnutzung im Tal ist dank der vielen Bäche und den idealen Geländevoraussetzungen naheliegend und hat eine dementsprechend lange Tradition. Die günstigen Gegebenheiten auf dem Grundstück meines Onkels im Bereich des Pfitscherbachs waren auch in unserem Fall die Grundlage für den Bau des Wasserkraftwerks“, erklärt Armin Rainer, der in seinem Brotberuf als Audioengineer mit eigenem Tonstudio tätig ist.
Projekt lange geplant
Die ersten Konzepte für das neue Kleinwasserkraftwerk entstanden vor gut 12 Jahren. 2012 wurde die Brunecker Niederlasssung der Planungsgemeinschaft Ingena von den Pfitschtalern mit der Ausarbeitung einer Machbarkeitsstudie und eines technischen Berichts beauftragt. Bereits im Jahr darauf wurde bei der Behörde in Bozen zum Erhalt der wasserrechtlichen Konzession angesucht. Bis Armin und Ernst Rainer 2017 die Konzession zugesprochen bekamen, sollten allerdings mehrere Jahre vergehen. „Das Behördenverfahren hat sich in die Länge gezogen, weil die Gemeinde in der Nähe unseres Projektgebiets ebenfalls ein Wasserkraftwerk bauen wollte. Weil das von der Gemeinde geplante Kraftwerk allerdings eine weitaus längere Ausleitungsstrecke beinhaltete, haben wir schlussendlich die Konzession zugesprochen bekommen, da unser Projekt mit geringeren ökologischen Eingriffen verbunden war“, so Armin Rainer. Die Generalplanung und Bauaufsicht wurde schließlich an das im Kleinwasserkraftbereich vielfach bewährte Planungsbüro Exact – Ingenieure aus Brixen vergeben. Das Unternehmen der Geschäftsführer Dr. Ing. Christian Leitner und Dr. Ing. Stefano Villotti war auch beim nahe gelegenen Kraftwerk Aue für die Generalplanung zuständig gewesen und konnte beim Neubau am Pfitscherbach seine Kompetenz ein weiteres Mal unter Beweis stellen.
Hochwassersicherheit höchste Priorität
Der frischgebackene Kraftwerksbetreiber betont weiters, dass seitens der Behörde äußerst hoher Wert auf die Hochwassersicherheit der Anlage gelegt wurde. Rund ein Jahr vor der Projekteinreichung war das Pfitschtal von einem verheerenden Unwetter heimgesucht worden. Die Überschwemmungen und Murenabgänge forderten zwei Menschleben, zusätzlich waren im Zuge der Naturkatastrophe im ganzen Tal hohe Schäden an Gebäuden und der öffentlichen Infrastruktur entstanden. „Die Behörden waren aufgrund dieses Katastrophenereignisses stark sensibilisiert, was sich in weiterer Folge auch auf unser Projekt ausgewirkt hat“, sagt Armin Rainer. Konkret bedeutete dies, dass die Wehranlage des Kraftwerks nach behördlicher Vorgabe unbedingt mit einem Schlauchwehr ausgestattet werden musste. Diese Technologie gewährleistet durch ihr Funktionsprinzip ein barrierefreies Abfließen von Hochwässern, wenn das Wasseraufkommen einen kritischen Wert erreicht. Im Gegensatz zu festen Wehrkörpern, die im Extremfall durch technische Gebrechen den Dienst versagen könnten, ist dies bei Schlauchwehranlagen durch dreifache Sicherheitsmechanismen im Prinzip unmöglich. Für die Ausführung des flexiblen Wehrsystems, dessen Membrane aus äußerst widerstandsfähigem Kautschuk bestehen, sorgte die in Österreich ansässige Hydro-Construct GmbH, deren Lösungen weltweit einen hervorragenden Ruf genießen. Die Oberösterreicher lieferten beispielsweise für das 2021 fertiggestellte Kraftwerk Casale Monferrato am Fluss Po in der italienischen Region Piemont eine wassergefüllte Schlauchwehranlage, die mit 200 m Breite und 4,3 m Höhe das größte Schlauchwehrsystem Europas darstellt. Mit dem Zuschlag für die Ausstattung des Kraftwerks Wieden konnte Hydro-Construct erstmals seine Kompetenz in Südtirol unter Beweis stellen. Für das neue Kraftwerk am Pfitscherbach fertigte Hydro-Construct ein 15,4 m breites und 1,2 m hohes Schlauwehr in wassergefüllter Ausführung inklusive sämtlicher Aggregate und technischem Zubehör. Nach der Montage der Klemmschienen im Frühjahr 2023 folgte gleich im Anschluss an die ersten Betonagen der Einbau des Wehrschlauchs, womit die Wasserrückleitung in den Pfitscherbach möglich wurde. Die erstmalige Inbetriebnahme des Schlauchwehrs ging schließlich im Februar 2024 über die Bühne.
Stahlwasserbau von Südtiroler Profis
Das Stahlwasserbauequipment an der Wehranlage stammt vom Südtiroler Branchenexperten Wild Metal GmbH, dessen Firmensitz sich in der nur ca. 25 km entfernten Gemeinde Ratschings befindet. Dass die Wasserfassung des Kraftwerks Wieden von Wild Metal ausgestattet wird, lag Armin Rainer zufolge nicht nur wegen der geografischen Nähe des Unternehmens auf der Hand. Das Unternehmen gilt als absoluter Spezialist, wenn zuverlässige Stahlwasserbaulösungen in höchster Qualität gefordert sind. Für den Neubau am Pfitscherbach hatte Wild Metal ein Komplettpaket geschnürt, das sowohl die gesamten Stahlwasserbauteile als auch die Schlauchwehranlage von Hydro-Construct beinhaltete. Den auf der orographisch rechten Gewässerseite angeordneten Einlaufbereich rüstete Wild Metal mit einem horizontalen Schutzrechen aus. Zur Reinigung des 16 m langen und 0,5 m hohen Rechens kommt eine Rechenreinigungsmaschine mit ölhydraulischem Antrieb zum Einsatz. Das von der Rechenfläche entfernte Treibgut und Geschwemmsel wird von der Putzharke zu dem neben der Schlauchwehranlage angeordneten Spülschütz befördert und somit auf direktem Weg in den Unterwasserbereich abgeführt. Ebenfalls im Wild Metal-Leistungsumfang enthalten waren unter anderem das Hydraulikaggregat, der notschlusstaugliche Absperrschütz, die Einbauteile und Steher für den Dammbalkenverschluss, das Einlaufrohr DN2200, die Not-Tauchpumpe für den Fischpass sowie die Dammtafel für den Rückgabekanal. Die fischökologische Durchgängigkeit an der Wasserfassung wurde durch einen technisch ausgeführten Beckenpass in Betonbauweise gewährleistet, der von einem Anteil der Restwassermenge konstant dotiert wird.
GFK-Rohre statt Betonkanal
Der Kraftabstieg zwischen der Wasserfassung und dem Maschinengebäude wurde in einer weitgehend linearen Trassenführung hergestellt. Die rund 300 m lange Druckrohrleitung besteht zu Gänze aus glasfaserverstärkten Kunststoffrohren (GFK) in den Dimensionen DN2100 bzw. DN1900, die vom österreichischen Vertriebsspezialisten ETERTEC geliefert wurden. Dank der unterschiedlichen Dimensionen der Druckrohrleitung konnte das Material mit der „Rohr in Rohr“-Methode verladen werden, wodurch sich die Betreiber in weiterer Folge ein beträchtliches Maß an Transportkosten ersparten. „Als das Projekt ursprünglich eingereicht wurde, sahen die Planungen noch einen betonierten Druckkanal als Kraftabstieg vor. Allerdings sind seither die Kosten für Baumaterialien in die Höhe geschossen, weswegen die Umdisponierung auf GFK-Rohre die logische Folge war“, so Armin Rainer. Damit haben die Betreiber definitiv eine gute Entscheidung getroffen. Denn neben dem Kostenfaktor bringen die GFK-Rohre noch eine ganze Reihe von weiteren Vorteilen mit sich. Das Rohrmaterial vereint die positiven Eigenschaften seiner zentralen Rohstoffe Harz, Glasfasern und Quarzsand zu einem hochwertigen Produkt, das rund um den Globus im Wasserkraftsektor zum Einsatz kommt. So sorgt die äußerst glatte Innenfläche der Rohre für optimale Fließbedingungen bei gleichzeitiger Minimierung der hydraulischen Reibungsverluste. Zudem überzeugen die GFK-Rohre mit ihrer Beständigkeit gegen schädliche Umwelteinflüsse und ermöglichen durch das anwenderfreundliche Muffensystem ein rasches Vorankommen bei der Rohrverlegung. Armin Rainer lässt nicht unerwähnt, dass die Verlegung der Druckrohrleitung und die Tiefbauarbeiten beim Maschinengebäude die größten Herausforderungen bei der Projektumsetzung darstellten: „Die Rohrdimensionen von DN2100 bzw. DN1900 erforderten natürlich entsprechend tiefe Rohrgräben. Da sich während der Rohrverlegung allerdings auch das Grundwasser kontinuierlich bemerkbar machte, war der Einsatz von Pumpen unabdinglich.“ Auch bei der Errichtung des Krafthauses, für das noch tiefer in die Erde hineingearbeitet bzw. betoniert werden musste, stellten sich die geologischen Verhältnisse schwieriger als erwartet dar. Deswegen wurde beschlossen, die Bodenplatte des Bauwerks mit zusätzlichen Bohrpfählen abzusichern.
Maschinengebäude gut getarnt
Von dem zur Gänze unterirdisch angelegten Maschinengebäude ist nach der Fertigstellung lediglich der Schachtdeckel an der Einstiegsluke sichtbar. Diese „versteckte“ Ausführung des Krafthauses wurde Armin Rainer zufolge von behördlicher Seite sehr positiv aufgenommen, da ein Teil des Projektgebietes unter Landschaftsschutz steht. Verantwortlich für die elektromechanische und leittechnische Ausstattung des Krafthauses war das Südtiroler Unternehmen EN-CO OHG. Das ebenfalls aus Ratschings stammende Unternehmen kann im gesamten Alpenraum auf eine Vielzahl erfolgreich realisierter Wasserkraftprojekte verweisen. Darüber hinaus stehen auf der Referenzliste von EN-CO noch eine ganze Reihe von internationalen Projekten. Als Herzstück des Kraftwerks kommt eine vertikalachsige Kaplan-Turbine vom deutschen Hersteller Kochendörfer zum Einsatz. „Der Vorschlag, die Turbinenlieferung an Kochendörfer zu vergeben, kam von EN-CO, da das Unternehmen speziell im Niederdruckbereich einen hervorragenden Ruf genießt“, sagt Armin Rainer. Dank der doppelten Regulierfähigkeit durch die verstellbaren Laufradflügel und den Leitapparatmechanismus kann die Maschine sowohl unter Voll- als auch unter Teillast ein breites Betriebsband abdecken. Bei vollem Wasserdargebot erreicht die auf 6 m³/s Ausbauwassermenge und ca. 5 m Fallhöhe ausgelegte Turbine 281 kW Engpassleistung. Komplettiert wird der Maschinensatz durch einen direkt gekoppelten Synchron-Generator vom österreichischen Hersteller Hitzinger. Der luftgekühlte Generator mit 320 kVA Nennscheinleistung wird vom 4-flügeligen Laufrad mit exakt 333 U/min angetrieben. Für die vollautomatische Stromproduktion des Kraftwerks sorgt die von EN-CO programmierte Steuerung. Der Zugriff auf die Leittechnik der Anlage ist den Betreibern anhand mehrerer Optionen möglich. So kann das Kraftwerk entweder durch einen PC im Maschinengebäude oder durch internetfähige Mobilgeräte wie Tablets oder Smartphones ortsunabhängig rund um die Uhr gesteuert und kontrolliert werden.
Kleinwasserkraftwerk legt positiven Start hin
Etwa 15 Monate nach dem Baubeginn hat das neue Pfitschtaler Kleinwasserkraftwerk im Juli 2024 erstmals sauberen Strom produziert. „Mein Onkel und ich sind im Großen und Ganzen sehr zufrieden mit dem Projektverlauf. Abgesehen von einigen Kinderkrankheiten sind die bisher gesammelten Betriebserfahrungen durchwegs positiv ausgefallen. Die an der Umsetzung beteiligten Unternehmen haben definitiv alle eine sehr gute Arbeit abgeliefert“, resümiert Armin Rainer. Aktuell wird die vom Kraftwerk Wieden erzeugte Energie – das jährliche Regelarbeitsvermögen liegt bei ca. 1,2 GWh – zur Gänze ins öffentliche Netz eingespeist. Zukünftig planen die Betreiber, den Ökostrom direkt an eines der zahlreichen Hotels oder Industrieunternehmen im Wipptal zu liefern. Dadurch könnte die Rentabilität der Anlage auf ein noch höheres Niveau steigen.
Erschienen in zek HYDRO, Ausgabe 5/2024
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