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Tiers in Südtirol optimiert Ökostromerzeugung mittels „Missing Link“-Kraftwerk9 min read

3. Dezember 2023, Lesedauer: 7 min

Tiers in Südtirol optimiert Ökostromerzeugung mittels „Missing Link“-Kraftwerk9 min read

Lesedauer: 7 Minuten

Über 40 Jahre lang diente der Triebwasserweg von der Fassung Goasbödele allein der Wasserzuleitung in den Speicher Lippen, von dem aus das Tierser Traditionskraftwerk Zyprian mit Triebwasser gespeist wird. Seit Ende letzten Jahres konnte mit der Inbetriebnahme des neuen Kraftwerks Lippen ein seit langem geplanter Zusatznutzen geschaffen werden. Das Kraftwerk, das unmittelbar oberhalb des Speichers Lippen angelegt wurde, erzeugt heute mit seiner vierdüsigen Pelton-Turbine und direkt an- getriebenem Drehstromsynchrongenerator im Schnitt rund 610.000 kWh im Jahr. Die Gemeinde Tiers, 100-prozentige Eigentümerin und Betreiberin des Kraftwerks, legte dabei großen Wert auf eine hohe Ausführungsqualität, die fast ausschließlich von Südtiroler Branchenspezialisten gewährleistet werden konnte.

Kraftwerk Lippen
Im untersten Abschnitt quert die Druckrohrleitung ein landwirtschaftlich genutztes Feld. Die Spuren der Grabungsarbeiten sind heute nicht mehr zu erkennen.

Über eine Länge von rund 10 Kilometern erstreckt sich der Hauptkamm des Rosengartens, eines der markantesten Gebirgsstöcke der Südtiroler Dolomiten, in Nord-Süd-Ausrichtung vom Schlern bis zum Karerpass. Sein Name dürfte laut Sprachforschern dabei weniger auf die gleichnamige Blumenpracht als vielmehr auf das alte Wort Reza zurückgehen, das übersetzt so viel wie Geröllhalde heißt und heute noch in zahlreichen Südtiroler Flurnamen vorkommt. Den nördlichen Teil des bekannten Rosengartens bildet die Gemeinde Tiers mit ihren vier Fraktionen, in denen heute ca. 1.000 Menschen zuhause sind. Das weitläufige Gemeindegebiet erstreckt sich in vertikaler Richtung von rund 700 m Meereshöhe bis hinauf auf über 3.000 Meter. Auch der höchste bewaldete Hügel Europas befindet sich auf Tierser Gemeindegebiet: der Taltbühel mit 1.756 m Seehöhe. Teile der Gemeinde liegen im Schutzgebiet des Naturparks Schlern-Rosengarten. Es verwundert nicht, dass Tiers zu den beliebtesten Ausflugszielen für Naturliebhaber, Bergsportler und Wanderer in Norditalien zählt – nicht zuletzt, weil man im Winter von hier aus auch das Skigebiet Carezza mittels Seilbahn einfach erreicht. Die Gemeinde profitiert von der malerischen Naturlandschaft, die auch reich an Wasserressourcen ist. Davon zeugt nicht nur die antiquarische wasserbetriebene Venezianer-Säge am Eingang des Tschaminatals, die man heute noch besuchen kann, sondern auch das eine oder andere Wasserkraftwerk, das in den letzten Jahrzehnten hier entstanden ist. Allen voran zu nennen das Kraftwerk St. Zyprian, das 1925 – also bereits vor fast 100 Jahren – in Betrieb genommen wurde.

St. Zyprian nutzt zwei Fassungen
Das Kraftwerk St. Zyprian in der gleichnamigen Ortsfraktion gilt somit als Keimzelle der Elektrifizierung am Fuße des Rosengartens. Nachdem das Kraftwerk 1925 erstmalig Strom geliefert hatte, wurde schon sehr bald an einem Ausbau gearbeitet. Dank stetig gestiegener Nachfrage wurde schon fünf Jahre später eine zweite Turbine installiert. Ende der 1970er Jahre ließen die Betreiber der Anlage schließ-lich eine komplette Rundumerneuerung angedeihen, in dessen Zuge auch die beiden Zuleitungen aus dem Tschaminbach und dem Breienbach saniert und modernisiert wurden. Um weiterhin ihre Abnehmer zuverlässig mit Strom versorgen zu können, realisierte die Gemeinde Tiers 1983 das E-Werk Kantun, eine leistungsstarke Unterlieger-Anlage. Sowohl das E-Werk Kantun als auch das Kraftwerk St. Zyprian wurden zuletzt im Jahr 2001 einer Modernisierung unterzogen. Das Konzept des Kraftwerks St. Zyprian sieht vor, dass es sein Triebwasser aus den beiden Fassungen Tschaminbach und Goasbödele bezieht. Bis zu 300 l/s werden dem Breienbach an der Fassung Goasbödele entnommen und wurden bisher über eine rund 1,7 km lange, drucklose Leitung zum Tagesspeicher Lippen geführt. Dabei überwindet das Wasser eine Fallhöhe von rund 80 m – eine Gefällstufe, die bislang hydroelektrisch ungenutzt geblieben war. Doch mit dem neuen Kraftwerk Lippen sollte sich das ändern.

 

Starke Argumente für ein Kraftwerk
„Für den Einbau eines kleinen Wasserkraftwerks oberhalb des Speichers Lippen sprachen vor allem zwei Gründe: zum Ersten der naheliegende zur Nutzung des energetischen Potenzials im Hinblick auf Energieversorgung und Klimaschutz und zum Zweiten jener, dass die 39 Jahre alte Wasserleitung vom Goasbödele bis zum Speicher nicht mehr ganz dicht war. Die Betreiber sahen sich gezwungen, regelmäßige Drucktests durchzuführen, die letztlich nahelegten, eine Sanierung oder einen Tausch der Stahl-Rohrleitung zu veranlassen“, erklärt der von der Gemeinde eingesetzte Projektmanager DI Robert Vieider, der grundsätzlich als professioneller Projektmanager für Land und Gemeinden auftritt und als Schnittstelle zu den ausführenden Firmen, Gutachtern, Anrainern, Planern, und Behörden fungiert. Er kann auf einige Erfahrung im Wasserkraftwerksbau verweisen, das neue Kraftwerk Lippen ist seine jüngste Referenz auf diesem Gebiet. „Nachdem man die Pläne für das Ausbauprojekt schon einige Jahre gewälzt hatte, durfte sich die Gemeinde Ende April 2020 über die erteilte Wasserkonzession freuen. Und nachdem der Gemeinderat im September 2021 die Baugenehmigung für das Krafthaus erteilt hatte, stand der Umsetzung nichts mehr im Weg“, erzählt Robert Vieider. Im Frühling letzten Jahres starteten die Bauarbeiten, die im Wesentlichen drei Baulose umfassten.

Kraftwerk Lippen
Die Fassung Goasbödele vor dem Umbau.
© Vieider

Wasserfassung wird adaptiert
„Es ist vermutlich eine Besonderheit des Projekts, dass die Projektwerber für die drei großen Kraftwerkskomponenten Wasserfassung, Druckrohrleitung, Krafthaus drei unterschiedliche Planungsbüros beauftragten. Während EUT Engineering GmbH neben dem gesamten Einreichprojekt mit der Ausarbeitung des Ausführungsprojekts Maschinengebäude betraut war, übernahm das Baubüro Ingenieurgemeinschaft aus Bozen die Planung der Wasserfassung und das Planungsbüro Exact aus Brixen jene der Druckrohrleitung“, führt Vieider aus. Die Verlegung der Guss-Rohrleitung übernahmen die Baufirmen Tschager Bau und Reggelbergbau, die sich beide im Projektverlauf bewährten. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem Umbau der Wasserfassung auf 1.260 Meter Seehöhe zuteil, die an die Erfordernisse eines modernen Wasserkraftbetriebs angepasst werden musste. So wurde nicht nur das Tiroler Wehr zur Gänze erneuert, sondern auch die Druckhaltekammer erweitert, der Entnahmeschütz erneuert und die bestehende Bachsperre erhöht. „Grundsätzlich war das Entsanderbauwerk ja für den drucklosen Betrieb konzipiert worden. Um es für eine hydroelektrische Nutzung anzupassen, galt es unter anderem, ein größeres Puffervolumen im Entnahmebecken zu schaffen, um eine ausreichende Zeitspanne für die Turbinenregelung zu gewährleisten“, so der Projektmanager. So wurde in der Folge ein Zubau am Sandfang realisiert, wodurch das Volumen im Entnahmebecken von ursprünglich 1,8 m3 auf 25 m3 vergrößert wurde. Auß- erdem wurde das bestehende Sicherheitssystem, bestehend aus einer selbstschließenden bzw. -öffnenden Schleuse nun durch eine konventionelle Rohrbruchklappe ersetzt.

Know-how aus dem Passeiertal
Der gesamte Stahlwasserbau wurde dabei in die erfahrenen Hände des Südtiroler Branchenspezialisten Gufler Metall aus Moos im Passeiertal gelegt, der nicht nur für die Ausrüstung der neuen Wehranlage sorgte. Darüber hinaus lieferten die Passeirer auch die Zulaufleitung DN600 von der Fassung in den Ent­sander in Stahl. Das Tiroler Wehr wurde von Gufler Metall mit einer integrierten, vollautomatischen Rechenreinigung ausgerüstet, die von außen kaum wahrnehmbar den Rechen von der Unterseite her frei von Geschwemmsel hält. Auch der Feinrechen und die beiden Schützen, der Einlaufschütz und der Spülschütz am Entsander, wurden von den Südtiroler Branchenspezialisten geliefert. Darüber hinaus noch der Rohrabgang mit Rohrbruchklappe sowie die Hydraulikanlage inklusive Steuerölleitungen. Für die erfahrenen Stahlwasser- und Maschinenbauer aus Moos im Passeiertal ein weiterer Kompetenzbeweis in Sachen Kleinwasserkraft auf ihrer langen Referenzliste.

Kraftwerk Lippen
Vom Tiefpunkt führt die Druckrohrleitung steil nach oben zum Hochpunkt. Die 1.734 m lange Druckrohrleitung wurde mit Gussrohren der Marke TRM erstellt.
© TRM

Extreme Hoch- und Tiefpunkt-Situation
Die Trasse der Druckrohrleitung entsprach gemäß der neuen Planung nicht mehr zur Gänze jener der alten Leitung. Sie sollte nun über zwei Drittel ihrer Länge in einem Forstweg verlegt werden, wurde aber auch in landwirtschaftlich genutzten Wiesen, Feldern und zu einem kleineren Teil in der Alttrasse unterirdisch verlegt, wobei die Überdeckung mindestens 1,50 m betragen sollte. In ihrem Verlauf quert die neue Druckrohrleitung eine bestehende Trinkwasserleitung und eine Schmutzwasserleitung. „Der baulich heikelste Abschnitt befindet sich im Bereich der Bachquerung, wo die Rohrleitung zwischen einer Brücke und einer Wildbachsperre durchgeführt wurde. Hier befindet sich auch der Tiefpunkt der Leitung, von wo sie auf ihrem Weg zum Krafthaus unmittelbar danach über eine Steilstufe nach oben führt“, erklärt Robert Vieider. Am Tiefpunkt wurde ein Entleerungsschacht angelegt, weiter oben am höchsten Punkt ein Schacht für die Entlüftung. Bei der Wahl des Rohrmaterials setzten die Betreiber auf die Qualität der Gussrohre aus dem Hause TRM – Tiroler Rohre, die mittels längskraftschlüssigen Steckmuffenverbindungen erstellt wurde. Über die Gesamtlänge von 1.732 m kamen Rohre der Druckstufe PN40 der Dimension DN500 zum Einsatz. Sie wurden in der klassischen „Auf-Zu-Methode“ verlegt, was nichts anderes bedeutet, als dass eine kurze Strecke Rohrgraben ausgehoben, Bettungsmaterial zugegeben und das Rohr danach installiert wird. Unmittelbar danach wird zugeschüttet. Auf diese Weise kann fast bei jedem Wetter verlegt werden, was sich speziell in alpinen Regionen aufgrund der Zeitersparnis bezahlt macht. Ein weiterer großer Vorteil der TRM-Gussrohre liegt in ihrer Standfestigkeit. Dank der form- und längskraftschlüssigen Muffen-Verbindungen kann die Leitung Belastungen von extrem hohen Kräften widerstehen. Je nach Nennweite können Betriebsdrücke von über 100 bar oder zulässige Zugkräfte von bis zu 200 kN aufgefangen werden.

Kraftwerk Lippen
Die bestehende Wasserfassung Goasbödele wurde für den Kraftwerksbetrieb umgebaut und adaptiert. Das Tiroler Wehr wurde von Gufler Metall mit einer innenliegenden Rechenreinigungsanlage ausgerüstet.
© zek

Gemeinde verbessert Ökostrombilanz
Die Wasserganglinie des Breienbachs weist saisonbedingt relativ starke Schwankungen auf, sodass der Anlage in den Wintermonaten häufig nur geringe Wassermengen zur Verfügung stehen. Die logische Antwort aus maschinentechnischer Sicht konnte unter den gegebenen Umständen nur eine mehrdüsige Peltonturbine sein, die ebenfalls von einem Südtiroler Branchenspezialisten – von der Firma Sora in Kiens – geliefert wurde. Die 4-düsige Peltonturbine, deren Gehäuse komplett einbetoniert wurde, ist dabei auf eine Nettofallhöhe von knapp 71 m und einen Ausbaudurchfluss von 300 l/s ausgelegt und erreicht dabei eine Nennleistung von 187 kW. Sie ist direkt mit einem dreiphasigen Synchrongenerator vom Fabrikat Marelli Motori gekoppelt, der auf eine Nennleistung von 250 kVA ausgelegt ist. Das Power-Duo im neuen Krafthaus konnte im Dezember letzten Jahres in Betrieb genommen werden und arbeitet seitdem ohne Unterbrechung. „Im Regeljahr erwarten wir uns von der neuen Anlage rund 610.000 kWh“, sagt Projektleiter Vieider. Damit erhöht die Gemeinde Tiers, die seit Anfang dieses Jahres ihr Verteilnetz an die Edyna übergeben hat, ihre Ökostromproduktion aus Wasserkraft nicht unerheblich und verbessert in weiterer Folge auch die eigene Klimabilanz. Anfang Mai konnten sich Bewohner und Wasserkraftinteressierte im Rahmen eines Tags der offenen Tür selbst ein Bild vom neuen Kraftwerk machen, das sich wie ein „Missing Link“ in den Kraftwerkspark der Südtiroler Gemeinde einfügt.

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