Reißeck II plus: Verbund setzt auf Erfolgsgeheimnis Eigenkompetenz9 min read
Lesedauer: 6 MinutenSeit rund zwei Jahren wird am Reißecker-Seenplateau auf über 2.200 m Seehöhe unter Hochdruck an einem der aktuell komplexesten Wasserkraftprojekte Österreichs gearbeitet: am neuen Pumpspeicher-Kraftwerk Reißeck II plus. Es wurde als die hydraulisch perfekte Ergänzung zum 2016 in Betrieb genommenen Pumpspeicherkraftwerk Reißeck II konzipiert und wird zur Gänze unterirdisch angelegt. Ein Qualitätsmerkmal des herausfordernden Kraftwerksprojekts liegt im hohen Eigenleistungsanteil in elektromechanischer Hinsicht. Sowohl was Konstruktion, Design, Kontrolle und Vormontage als auch die Endmontage im Berg betrifft, greift VERBUND bewusst auf eigenes Personal und eigenes Know-how zurück. Am Standort des VERBUND Kraftwerks Schwarzach im Pongau wurde mit der Vormontage der neuen Maschinen der Grundstein für eine erfolgreiche Montage auf einer schwierigen hochalpinen Kraftwerksbaustelle gelegt.
Mit der Fertigstellung der wesentlichsten Bauarbeiten auf der Hochgebirgsbaustelle Reißeck II plus sind seit einigen Wochen die Montagearbeiten angelaufen. Damit in der Kaverne auf 2.200 m Seehöhe keine Verzögerungen auftreten und die Montage möglichst reibungslos vonstatten gehen kann, wird größtes Augenmerk auf die Vormontage gelegt. Denn: Jede Stunde, die man meint, in der Vormontage einsparen zu müssen, könnte doppelt so viel Zeit auf der Baustelle im Hochgebirge kosten. Grund genug, dass die Verantwortlichen von VERBUND am Standort ihres Salzach-Kraftwerks Schwarzach zwei moderne Werkshallen errichtet haben, um hier unter optimalen Bedingungen sämtliche Vormontagearbeiten, aber natürlich auch diverse Wartungs- und Reparaturarbeiten durchführen zu können. „Die neuen Hallen sind nach den Plänen von Philipp Hierzegger vom Bereich Maschinenbau und Stahlwasserbau mit Montagegruben ausgeführt, um ein möglichst praktisches und sicheres Arbeiten an den großen Maschinenbauteilen zu ermöglichen“, erklärt Dipl.-Ing. Christian Lechner, Sachgebietsverantwortlicher Montage und Fertigung bei VERBUND. Das Grundkonzept gehe – so Lechner weiter – auf die Idee zurück, dass man die Turbine als Kompaktteil hier vormontieren könnte, bevor man sie als Ganzes auf die Baustelle liefert. „Alles was man auf 2.200 m Seehöhe liefert, sollte schon vorher so gemacht sein, dass es auch passt.“
Maschine mit besonderen Eigenschaften
Gerade in elektromechanischer Hinsicht setzt VERBUND beim Projekt Reißeck II plus auf Know-how aus den eigenen Reihen. So wurde nicht nur das Konzept der Vormontage, sondern das gesamte Maschinenkonzept von Philipp Hierzegger und seinem Team entwickelt. „Die Rahmenbedingungen des Projekts und natürlich auch der Kostenfaktor haben uns letztlich zu einem relativ exotischen Maschinentyp geführt, der unseres Wissens nach in dieser Form so noch nicht realisiert wurde“, erklärt Hierzegger. Ausgehend von einer Variante mit zwei Maschinensätzen kamen die Ingenieure letztlich zu einer doppelflutigen Maschine, deren Ein- und Auslauf sich auf der selben Seite befinden und auf deren Welle ein einziger Motorgenerator situiert ist. Damit war eine spezieller Pumpturbinensatz entstanden, der noch dazu drehzahlvariabel betrieben werden kann. „Das Vorbild für diese Maschine fanden wir im Möll-Pumpwerk, das – auch wenn es nur pumpen kann – ein sehr ähnliches Maschinendesign aufweist und mit dem wir seit den 1950er Jahren beste Erfahrungen gemacht haben“, führt Christian Lechner weiter aus. Für die Umsetzung der Maschine gaben die Ingenieure von VERBUND den beauftragten Industrieunternehmen aus der Branche genaue Vorgaben für die einzelnen Bauteile vor, die in weiterer Folge zur Montagehalle in Schwarzach geliefert wurden. „Im Gegensatz zu Branchenfirmen müssen wir uns an kein Konstruktionshandbuch halten. Das bedeutet, dass wir Bauteile kaufen, mit denen wir die besten Erfahrungen gemacht haben – egal ob es sich um Gleitringdichtungen, Lagerböcke oder etwas anderes handelt“, sagt Christian Lechner.
Vormontage und intensive Prüfungen
In den vergangenen Wochen wurden nun diverse Bauteile, wie Welle, Laufräder, Saugrohrkrümmer, Lager oder Spiralen, in den beiden Werkshallen vom VERBUND Montageteam in Schwarzach vormontiert und auf Herz und Nieren geprüft. In den neuen Werkshallen verfügen die Ingenieure und Monteure von VERBUND über die Möglichkeit, auch umfassende Druckprüfungen an den Bauteilen vorzunehmen. „Zum Beispiel haben wir hier die neuen Absperrklappen mit 3,20 m Durchmesser einer Druckprobe unterzogen. Gleiches gilt für die Spiralen, die wir hier noch einmal in zwei Teile zerlegen mussten, um sie durch den beengten Stollen an ihren Einbauort bringen zu können“, erklärt Philipp Hierzegger. Zahlreiche Details an dem neuen Maschinensatz zeugen davon, dass in Reißeck II plus ein spezielles Maschinenkonzept zum Einsatz kommt. So wurde beispielsweise die Welle aus Edelstahl hohlgebohrt: Das macht natürlich bei einem horizontal angeordneten Maschinensatz mit weit auseinanderliegenden Lagerstellen Sinn, bei dem durch Eigengewicht und die Belastung durch die Maschinen erhöhte Drücke zu Verformungen an der Welle führen könnten. Die Hohlbohrung wirkt dem entgegen.
Herausforderungen auf über 2.200 Metern
Eine zentrale Herausforderung der Projektumsetzung stellt die schwere Erreichbarkeit der Baustelle auf über 2.200 m Seehöhe dar. Bis zur Baustelle führt eine mehr oder weniger gut ausgebaute, 25 km lange Hochgebirgsstraße, über die sämtliches Material, Werkzeug, Geräte und Personal vom Mölltal aus angeliefert werden müssen. „Tatsächlich gibt es auch nur ganz wenige Transportunternehmen, die auf derartige Transporte spezialisiert sind und die über entsprechende Fahrer und geländegängige Sattelschlepper verfügen. Die Baumannschaft braucht für die Fahrt hinauf rund eine Stunde“, gibt Hierzegger zu bedenken. Dass man nichts Wichtiges vergessen haben sollte, liegt auf der Hand. Selbst kleine Bauteile, die man nicht dabei hat, können eine Baustelle über Stunden lahmlegen. Grundsätzlich sei auch die Kommunikation mit der Gebirgsbaustelle ein Kapitel für sich, da man im Baustellenbereich am Reißecker Seenplateau so gut wie keinen Handy-Empfang hat. Daher sei es auch von Bedeutung, dass man über erfahrene Monteure vor Ort verfüge, betont Christian Lechner: „Bei einer Baustelle dieser Art ist es essentiell, Entscheidungen zu treffen. Wenn man keine Entscheidung trifft, hat man zumeist schon die falsche getroffen, denn dann steht alles.“
Kompetenz im eigenen Haus
Aktuell arbeitet ein Team von acht bis neun Monteuren von VERBUND an der Maschinenmontage. Insgesamt kann Christian Lechner aus einem Pool von rund 33 Mann schöpfen, die allesamt in den Reihen von VERBUND geschult und ausgebildet wurden – und daher bereits über großes Know-how verfügen. „Unsere Mitarbeiter sind im Sommer zumeist bei Hochdruckkraftwerks-Baustellen wie eben Reißeck II plus im Einsatz und im Winter widmen sie sich dann vorrangig den Niederdruck-Anlagen, also den großen Laufkraftwerken“, erklärt Christian Lechner und betont in diesem Zusammenhang, wie wichtig eigenes Personal für die Betreuung der eigenen Kraftwerke ist: „VERBUND verfügt heute über 130 Wasserkraftwerke. Um diese erhalten, warten und gegebenenfalls erweitern zu können, braucht es die Eigenkompetenz im Haus. Natürlich haben eigene Leute auch eine viel steilere Lernkurve als das Personal von beauftragten Unternehmen, wo unter Umständen der Personalstamm stark fluktuiert. Außerdem: Wenn wir die Aufträge selbst erledigen können, bleibt auch die ganze Wertschöpfungskette in unseren Händen.“
Knacknuss Steuerungskonzept
Aus den eigenen Reihen, konkret von Philipp Hierzegger und seinem Team, stammt neben dem Maschinenkonzept auch das steuerungstechnische, das sich im Fall des neuen Pumpspeicherkraftwerks Reißeck II plus als besonders diffizil darstellt. „Man wird die Maschine sowohl im Ein- als auch im Zwei-Maschinenbetrieb fahren können. Das Knifflige dabei ist nun, die Optimalpunkte für die Umsteuerung zu finden: Wann ist welche Klappe in Abhängigkeit vom Leitapparat zu schließen, um einen möglichst ruhigen Umschaltprozess zu erreichen. Hinzu kommt, dass man mit einer drehzahlregulierten Turbine weitere Stellschrauben für die Steuerung bekommt. Das ist sehr komplex. Wir haben zwar dafür bereits ein Steuerungskonzept erstellt, doch für dessen Praxistauglichkeit sind umfangreiche Tests im Rahmen des Probebetriebs unerlässlich“, geht Philipp Hierzegger ins Detail. „Entscheidend ist, dass das System möglichst optimal mit den anderen Stufen zusammenspielt. Es geht nicht nur darum, dass wir mit dem neuen Maschinensatz den kleinen Mühldorfer See nun komplett nutzen können, sondern dass der gesamte Anlagenkomplex effizienter zu betreiben ist. Das große Bild zählt dabei“, ergänzt Christian Lechner.
Projekt ist im Zeitplan
Stand Mitte Juli ist bereits der untere Teil der ersten Spirale in der Maschinenkaverne einbetoniert, während andere Maschinenbauteile vormontiert in den Werkshallen in Schwarzach auf ihren Abtransport warten. Schritt für Schritt erfolgen nun die weiteren Montagearbeiten, die bis November abgeschlossen sein sollten. Mit Ende dieses bzw. Anfang nächsten Jahres soll dann die Inbetriebsetzungsphase starten. „Wenn alles gutgeht, wird der Probebetrieb im März nächsten Jahres abgeschlossen sein, und wir können in den Regelbetrieb übergehen“, ist Philipp Hierzegger guter Dinge. Der Optimismus ist berechtigt. Dank zweier relativ milder Winter, in denen im Hochgebirge durchgearbeitet werden konnte, befindet sich das Kraftwerksprojekt voll im Zeitplan.
Essentiell für Gelingen der Energiewende
In Summe rund 160 Millionen Euro investiert VERBUND in das Projekt Reißeck II plus. Die neue Anlage soll dazu beitragen, dass die in Zukunft weiter ansteigende Stromproduktion aus erneuerbaren Energien bedarfsgerecht zwischengespeichert werden kann. Mit dem verstärkten Ausbau der volatileren Energieerzeugung aus Wind und Sonne steigt auch der Bedarf, diese für den Netzbetrieb ausgleichen zu können. „Das Vorhandensein von großen und flexiblen Pumpspeicherkraftwerken ist fundamental für das Gelingen der Energiewende in Richtung einer CO2-freien Stromversorgung. Mit dem neuen Pumpspeicherkraftwerk Reißeck II plus stärken wir als VERBUND die grüne Batterie in den Alpen“, sagte VERBUND-Vorstandsvorsitzender Michael Strugl anlässlich des Stollenanschlags für das neue Pumpspeicherkraftwerk im Juni vor zwei Jahren. Reißeck II plus wird als Kavernenkraftwerk vollständig im Inneren des Berges errichtet und als Ergänzung des 2016 in Betrieb genommenen Kraftwerks Reißeck II den Höhenunterschied zwischen den beiden Mühldorfer Seen am Reißecker Seenplateau nutzen. Die beiden modernen Pumpturbinen mit einer Leistung von insgesamt 45 Megawatt können bei Stromüberschuss erneuerbare Energie speichern und im Bedarfsfall in Strom rückverwandeln.
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