Venedig setzt alle Hoffnungen auf MOSE7 min read
Lesedauer: 6 MinutenMit einer ersten Bewährungsprobe im Oktober 2020 wurden die Sturmflutbarrieren vor der Lagunenstadt Venedig in Betrieb genommen. Ein System aus vier beweglichen Barrieren, die mittels Druckluft hochgefahren werden, schützt seitdem das UNESCO-Weltkulturerbe vor Hochwasser bis zu 3 Meter Höhe. Unter dem an ein biblisches Vorbild gemahnenden Akronym MOSE (steht für: modulo sperimentale elettromeccanico) wurde seit 2013 an der baulichen Umsetzung des größten Bau- projekts in der italienischen Nachkriegsgeschichte mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von 6 Mrd. Euro gearbeitet. Das MOSE-Flutsperrensystem, das bis zuletzt auch zahlreiche Kritiker auf den Plan gerufen hatte, gilt heute als technisches Meisterwerk und innovatives Vorbild für ähnliche Schutzanlagen im Kampf gegen den steigenden Meeresspiegel.
Die Bilder vom Hochwasser in Venedig Mitte November 2019 gingen um die Welt. Nach anhaltenden Unwettern, heftigen Regenfällen und ungewöhnlich starken Scirocco-Winden war der Pegel vor der Lagunenstadt um knapp 1,90 Meter angestiegen. Die höchste Hochwassermarke in Venedig seit dem verheerenden „Acqua Alta“ im Jahr 1966. Für den tief gelegenen Markusplatz bedeutete dies bereits eine vollständige Überschwemmung, knietief wateten die Menschen durch das Wasser. Die gesamte Altstadt stand so gut wie komplett unter Wasser. Zum Frust der Venezianerinnen und Venezianer gesellte sich in der Folge auch eine Portion Ärger: Zu lange hatte man ihrer Meinung nach auf ein schützendes Bollwerk vor der Lagune gewartet und darauf gehofft, dass das Jahrhundertbauwerk schnell fertiggestellt würde.
Spatenstich im Jahr 2003
Grundsätzlich reichen die Planungen für ein schwimmendes Schutzsystem für Venedig bereits 40 Jahre zurück. 1984 wurden erste Machbarkeitsstudien erstellt, die neben dem Hochwasserschutz auch die ökologische und hydrogeologische Gesamtsituation der Lagune abbilden sollten. Zu diesem Zweck wurde im Auftrag der venezianischen Wasserbehörde bei Padua ein reales Modell gebaut, in dem sämtliche Sandbänke, die Fahrrinnen und auch die Gezeitenverhältnisse berücksichtigt wurden. Diese ersten Forschungsarbeiten sollten die Grundlage für das Projekt MOSE liefern, dem 1996 von der italienischen Regierung grünes Licht erteilt worden war. Der Projektname MOSE (Italienisch für: modulo sperimentale elettromeccanico) wurde selbstredend nicht zufällig gewählt. Steht der biblische Name Mose oder Moses doch übersetzungsgemäß für den Retter, dem es gelang, das Meer zum Schutz der Israeliten zu bändigen. Am 14. März 2003 wurde es schließlich konkret: Der damalige Ministerpräsident Silvio Berlusconi, eine der schillerndsten Politgestalten der europäischen Politik der letzten 30 Jahre, nahm den Spatenstich für das Milliardenprojekt vor. Ursprünglich hatten die Planer mit einer Inbetriebnahme der Sturmflutbarrieren bereits im Jahr 2014 gerechnet. Doch vor allen Dingen politische Querelen mit Baustopps und Finanzkürzungen führten in der Folge immer wieder zu Verzögerungen.
Venedig sinkt ab
Warum Venedig nun auf ein derartiges ingenieurtechnisches Monumentalprojekt setzte, hatte durchaus mehr als einen Grund: Zum einen sorgt der Klimawandel dafür, dass der Meeresspiegel steigt. Zum anderen sinkt die Weltkulturerbe-Stadt peu a peu ab. Verantwortlich dafür ist die Entnahme von Grundwasser und Methan durch die Industrie am Festland, aber auch die zum Teil massive Erweiterung der Fahrrinnen zugunsten der Kreuzfahrtschiffe. Außerdem trägt die jahrzehntelange Raubfischerei mit Fangkörben zu diesem Negativeffekt bei, da die Fangkörbe die Vegetationsdecke am Meeresgrund schädigen, wodurch in weiterer Folge die Sedimente am Meeresgrund schneller abgetragen werden. Aus all diesen Gründen verkörpert das MOSE Projekt nun mehr als nur Hochwasserschutz. Es beinhaltet darüber hinaus auch ein komplexes Programm zum Schutz des Ökosystems in der Lagune, etwa durch eine großangelegte Wiederherstellung von Watt und Salzmarschen und den Schutz von kleinen Inseln, wodurch am Ende eine höhere Gesamtresilienz des Lagunensystems erreicht werden soll.
78 Barrieren aus Stahl
Die technische Lösung für das Hochwasserschutzsystem besteht aus vier mobilen Barrieren, die zusammen ein Schleusensystem mit einer Gesamtlänge von 1,6 km ergeben. Die insgesamt 78 beweglichen Barrieren aus Stahl sind an drei Stellen der Lagune installiert, wo natürliche Öffnungen hin zur Adria gegeben sind: der Lido Öffnung, wo zwei Barrieren installiert wurden, die Malamocco Öffnung und die Chioggia Öffnung. Die größeren Bauteile, die rund 30 Meter lang, 20 Meter breit und 5 Meter tief sind, wurden aus 13 mm dickem Stahlblech gefertigt und wiegen einzeln jeweils rund 250 Tonnen. Grundsätzlich handelt es sich um wasserdichte Stahlkästen, die über ein spezielles Gelenk einseitig am Grund verankert sind. Um dem bekannt aggressiven Medium Salzwasser möglichst lange standzuhalten, wurden die einzelnen Bauteile innen wie außen mit einem speziellen, umweltfreundlichen Korrosionsschutz sowie mit einem Anstrich zum Schutz vor Bewuchs versehen. Außerdem wurden Anti-Korrosionsanoden installiert. Damit die Funktion der Sperrbauwerke permanent sichergestellt ist, unterliegen die Bauteile einem strikten Wartungsprogramm.
Präzision unter harten Bedingungen
Für ein perfektes Funktionieren des ausgeklügelten Schleusensystems dienen nicht zuletzt auch die installierten Winkelgeber, vier Stück an jedem einzelnen Stahlkasten. Zum Einsatz kommen Absolutwinkelgeber vom Typ RIVERT aus dem Hause Rittmeyer Brugg. Diese ermöglichen eine hochpräzise Winkelmessung, ganz ohne Getriebe oder Gestänge. Die Gründe, warum die Betreiber des MOSE-Projekts auf die Qualität der Absolutwinkelgeber von Rittmeyer Brugg setzten, sind schnell umrissen: Zuverlässigkeit, Robustheit unter schwierigsten Bedingungen, Präzision und Kompatibilität. Seit rund 40 Jahren entwickelt das Schweizer Traditionsunternehmen absolut messende Winkelgeber, die in der Branche immer wieder die Standards gesetzt haben. Der Typ RIVERT bietet eine integrierte Prozesswertberechnung und arbeitet über einen Messbereich von 0 bis 360 Grad. Die absolute Position des Schleusenbauteils ist direkt nach dem Einschalten bekannt. In den einzelnen MOSE-Bauteilen geben die Absolutwinkelgeber RIVERT die Position mit einer Genauigkeit von ± 0,044° an – und das unter den denkbar schwierigen maritimen Umgebungsbedingungen. Die einzelnen Messdaten liefern die RIVERT Messsysteme an die Leitwarte im Norden der Lagunenstadt, wo alle Fäden zusammenlaufen – und über den Einsatz des Sperrenbauwerks entschieden wird.
Barrieren steigen dank Druckluft
Im Normalbetrieb beträgt der Messwinkel ohnehin 0 Grad, da die Barrieren im Regelfall mit Wasser gefüllt am Meeresboden – bzw. in den speziell dafür geschaffenen Fundamenten – liegen. Ist mit Hochwasser zu rechnen, werden die Fluttore mit Druckluft gefüllt, sodass sie sich anheben und im Verbund eine Barriere bilden. Sinkt die Flut wieder ab, werden die Bauteile mit Wasser gefüllt und sinken erneut auf den Grund in ihre Ausgangsposition. Dabei ist es möglich, die Laguneneinlässe komplett zu verschließen, oder bei Bedarf auch nur partiell.
Im Hinblick auf die einzelnen Bauteile wurde besonderes Augenmerk auf die Gelenke gerichtet, welche die Fluttore mit der Fundamentkonstruktion verbinden. Insgesamt wurden für die vier Barrieren 156 plus 8 Reservebauteile gefertigt, die den extrem hohen Belastungen standhalten müssen. Schließlich kommen auf die Gelenke im Betriebsfall durch die Wucht von Tidenhub und Wellen Belastungen von mehreren Hundert Tonnen zu. Darüber hinaus müssen sie auch dem aggressiven Meerwasser standhalten. Speziell die Gelenke gelten daher als echtes stahlwasserbauliches Meisterwerkstück.
MOSE bewährt sich
Gegen Ende 2020 konnten die umfangreichen Inbetriebnahmetests erfolgreich abgeschlossen werden – und das Sperrensystem in den Regelbetrieb übernommen werden. Seitdem waren die Flutschutzmodule bereits circa 40 Mal im Einsatz. Wie etwa im November des Vorjahres, als massive Sturmfluten prognostiziert waren, die zuvor die Lagunenstadt überflutet hätten. Doch die Sperren hielten Stand und hielten das, was sich die Venezianerinnen und Venezianer von ihnen versprochen hatten. Trotz Acqua Alta blieb der ohnehin sehr tief gelegene Markusplatz frei von Überschwemmungen. Hochwasser bis zu 3 Meter Höhe können die mobilen Barrieren blockieren und garantieren Venedig damit Sicherheit für Jahrzehnte. Offiziell ist das MOSE Schutzsystem für den Einsatz in den nächsten 100 Jahren ausgelegt. Experten sehen diese Einsatzdauer angesichts des rasant steigenden Meeresspiegels allerdings mit Zweifel. Dennoch ist das MOSE Schutzsystem die Lebensversicherung für Venedig in den nächsten Jahrzehnten und zugleich ein Meisterwerk internationaler Ingenieurskunst und Vorzeigereferenz für ähnliche Projekte weltweit.
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